„Wir sind doch auf nem Festival!“ ist wohl eine der häufigsten Aussagen, die an dem Festivalwochenende etwas rechtfertigen sollen, was die meisten der Besucher*innen zuhause nicht machen würden. In dieser Art Parallelgesellschaft, die den Überfluss an Musik- und Lichtreizen, Bier und Menschen zelebriert, scheinen Umwelt- und Sozialaspekte erst mal völlig ausgeblendet.
Die letzten Jahre zeigen jedoch ein wachsendes Bewusstsein: Das soziale Projekt „Viva con Agua“ ist groß geworden wie kaum ein anderes Projekt auf Festivals, Initiativen wie „Love Your Tent“ oder „Hanseatic Help“ gesellen sich zu Info-Ständen von Organisationen wie „Make Some Noise!“, die Sexismus & Homophobie in Musik anprangern und dagegen sensibilisieren möchte. Nicht zuletzt zeigt der Erfolg von Goldeimer, dass vielen (beileibe nicht allen!) Besucher*innen Nachhaltigkeit wichtiger ist, als man zunächst denkt.
Dennoch: Die Anzahl der zurückgelassenen Pavillons, Zelte, Schlafsäcke, ja gar ganze Camps scheint eher immer deutlicher zu steigen. Was auch häufig zurückgelassen wird: Ravioli-Dosen und andere Konserven, die von den ehemaligen Besitzer*innen definitiv nicht mehr bis zum Bahnhof oder auch nur zum Auto getragen werden möchte. Die Festival-AG der Initiative FOODSHARING setzt genau an dem Punkt an.
„Allein in Deutschland erreichen fast 50% der produzieren Lebensmittel nicht die Mägen der Verbraucher*innen“ erklärt mir Flo, der dieses Jahr beim Summer’s Tale einen Vortrag für foodsharing hielt. Während einige unförmige Kartoffeln bereits auf dem Feld zurückgelassen werden, weil Landwirt*innen die Ware sonst nicht an die Händler verkaufen könnten, zeigte Doku-Filmer Valentin Thurn mit seiner Dokumentation „Taste The Waste“ (2012), dass vor allem auch in privaten Haushalten weggeschmissen wird: Über 80kg landen pro Kopf in den Haushaltsmüll. Ob in die Statistik bereits Ravioli-Dosen der Festival-Besucher*innen mit einbezogen sind? Ich hab die Foodsaver auf dem diesjährigen Hurricane Festival begleitet , um einen Eindruck zu gewinnen.
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„Ist der Transport der Bier-Tisch-Garnituren aus Hamburg jetzt geklärt?“ schreibt der für’s Festival verantwortliche foodsharing-Teamleiter Michael am Dienstag vor dem Hurricane in die Whatsapp Gruppe. Wir wollen ein gemeinsames Crew-Camping organisieren, um sich besser für die Arbeit vor Ort abzusprechen, mehr Gefühl von Community und damit bestmögliche Motivation & Spaß für die Foodsaver zu garantieren. Insgesamt über 20 Helfer*innen aus Mainz, Kiel, Hamburg, Köln und Berlin sind dieses Jahr mit dabei, darunter Mitglieder der Organisationsgruppe in der foodsharing Struktur, andere, die sich für ein Ticket beworben haben. Das Hurricane ist zusammen mit dem Southside eins der Kern-Festivals für Foodsharing geworden und die Zusammenarbeit mit FKP läuft nun schon seit einigen Jahren – und wächst.
Mittwoch machen wir uns mit Van und Anhänger auf den Weg nach Scheeßel, um das Crew-Camp in Sichtweite des Viva con Agua Crew-Camps aufzubauen und das foodsharing-Team noch einmal zu briefen, was die Aufgaben die nächsten Tage sind. Ab Donnerstag bis Montag soll das Foodsharing-Zelt besetzt sein, um Besucher*innen zu informieren, aber auch eine Anlaufstelle zu sein, wenn man Lebensmittel abgeben möchte, die man zu viel gekauft hat oder nicht mehr wirft – anstatt sie wegzuwerfen. Am ersten Tag kommt nicht so viel zusammen; die meisten wollen erst mal ankommen, ihr Zelt aufbauen und Abends zu Warm-Up Party. Gegen 19 Uhr hat auch das Team für den Abend frei und kann sich Romano und Grossstadtgeflüster in der White Stage, die zunehmend in Wasser versinkt, angucken.
„Geht bitte in die Autos!“ schreibt Berit nachts, als das Gewitter stärker wird und eine Warnmeldung ausgegeben wird. Die erste geballte Welle von Gewittern trifft Scheeßel die Nacht, die die White Stage erst mal ausknocken wird. „Mhh, ist das noch normal?“ fragt Kristijan in die Gruppe. Er erntet gespaltene Reaktionen. Am nächsten Morgen soll es eigentlich für das Team weiter gehen, die Schichten an dem stationären „Fairteiler“, wie Abgabestellen genannt werden, sowie an weiteren Orten auf den Camping-Plätzen zu besetzen. Um 10 gibt’s dann eine weitere Unwetterwarnung vom Veranstalter, einige Team-Mitglieder harren erst mal im Foodsharing-Zelt aus, andere warten in den Autos im Crew-Camping. „Überlegen, ob wir bei Blitz notfalls ins Camp laufen oder uns auf Plastikkisten hier stellen :D“ schreibt Lise. Wenige Stunden später wird der Camping-Platz wieder aktiver und neugierige Menschen besuchen das Foodsharing-Zelt.
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„Ich fand es großartig, wie viele Menschen auf uns zukamen, sich informierten, mit uns frühstückten, quatschten und lachten“ erzählt mir Mailin, die beim Feel Festival und beim Dockville mit dabei war. „Dadurch, dass viele von uns schon sehr Foodsharing erfahren waren, war es auch möglich, Interessierten über den FS Stand Infos über regionale Foodsharing Aktivitäten zu geben und Kontakte weiterzugeben.“ Nachdem die Festival-Gruppe von Foodsharing vor ein paar Jahren
klein begann, bedient die knapp 30-köpfige Orga-Gruppe mittlerweile alle großen deutschen FKP Festivals, darunter auch A Summer’s Tale, M’era Luna oder das Highfield. Dabei werden zunehmend mehr Festivals angesprochen, mal mit positiven Resultat, mal mit einer Absage – Das Summerjam Festival beispielsweise hatte schlichtweg keinen Platz mehr auf dem raumtechnisch sehr begrenzten Festivalgelände für einen Foodsharing Stand.
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Zurück auf dem Hurricane, Samstag. Nachdem der Freitag schlussendlich doch einigermaßen trocken endete, versucht der Samstag den Boden des Festivalgeländes endgültig unbenutzbar zu machen und regnet erst mal stundenlang vor sich hin. Bitter: Wir hören von unseren Kolleg*innen beim Southside, dass alles abgeblasen ist; Das hat sich das Team sicherlich anders vorgestellt. Hier in Scheeßel haben einige Foodsaver Schicht, sitzen im Fairteiler, die anderen sitzen im Camp und – warten. Darauf, dass sich das Wetter beruhigt und es eine offizielle Entwarnung bezüglich Gewitter gibt. Immer wieder wird der Einlass auf das In-Field verzögert, bis das Programm am Samstag schließlich ganz abgesagt wird. Wir nutzen das, um bei den Ständen im In-Field nachzufragen, ob sie nun Essen haben, welches sie sonst wegschmeißen würden. Die Stände hatten sich teilweise stundenlang auf eine Öffnung des In-Fields vorbereitet und bereits angefangen, Speisen zuzubereiten. Wir quatschen mit einigen Menschen an den Essens-Ständen, der Betreiber des Span-Ferkel Stands erzählt, er habe zwei Ferkel nach der Absage wegschmeißen müssen. Als wir beim niederländischen Bio-Pommes Stand mit den Angestellten reden, kommt der Chef dazu. „Habt ihr noch Platz für Kartoffeln? Weil heute abgesagt ist, hab ich jetzt noch welche übrig, die ich nicht verarbeiten kann.“ Auf die Frage, wie viel das denn sei, antwortet er trocken „Ach, so ca. 500kg…“. Wir schlucken. Wir sind nur mit einem Fahrrad-Anhänger gekommen, der eher so mäßig durch den Schlamm kommt.
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„Das machen doch die Tafeln auch!“ mag man bei dem Job von Foodsharing denken, solche Fragen gab es auch bei Flos Foodsharing-Vortrag beim Summer’s Tale. Flo erläutert das so: „Die Tafeln können nur zu bestimmten Zeiten und nur bestimmte Lebensmittel, zum Beispiel keine mit (lange) abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum, abholen. Dafür holen die Fahrer*innen der Tafel bei einer Abholung teilweise hundert Kilogramm Lebensmittel ab – wir kommen auch, wenn nur drei Brötchen um Mitternacht abzuholen sind.“
Was im Foodsaver & Tafel-Alltag meist ein ergänzendes Miteinander ist, das sich nicht als Konkurrenz verstehen soll, es aber durchaus mal Überschneidungen und Reibungen gibt, gilt auch in ähnlicher Form für Festivals. Die meist jungen, ehrenamtlichen Foodsaver haben nicht die Infra-Struktur, um alles, was auf dem Festival anfällt (inklusive 500kg Kartoffeln!) zu organisieren. Auch beim Hurricane arbeitet das Foodsharing-Team eng den Tafeln der Region, unter anderen die Rotenburger Tafel, zusammen. Beim Summer’s Tale übernahm das dieses Jahr aber auch z.B. die evangelische Kirche Salzhausen.
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Am Hurricane-Sonntag kommt dann noch mal richtig Trubel in das Foodsharing Zelt; Dem Wetter sei Dank. Einige Besucher*innen packen aber auch schon ihre Sachen und geben Konserven und andere Essensware am Fairteiler im Foodsharing Zelt ab, welches sie nicht mehr mitnehmen wollen. „Es kommen viele vorbei , schauen überrascht und können einfach angesprochen werden“ erzählt Kristijan in der Nachbesprechung des Festivals. Viele sind von der Idee begeistert und freuen sich darüber, eine Möglichkeit zu haben, ihr Essen sinnvoll zurückzulassen, wenn sie es nach dem harten & sturmreichen Wochenende sonst schweren Herzens zurückgelassen und weggeschmissen hätten. Besonders freuen wir uns über persönliche Gespräche, in denen Besucher*innen sich erklären lassen wollen, wie auch sie Foodsaver in ihren Heimatstädten werden können.
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„Viele Besucherinnen und Besucher des Vortrages nahmen das zum Anlass, danach Fragen zur Registrierung zu stellen oder uns mögliche Kooperationspartner vorzuschlagen“, erzählt auch Flo vom Summer’s Tale. Sein Vortrag war dieses Jahr nicht die einzige Aktion der Festival-Gruppe auf anderen Festivals: Beim Feel Festival in der Nähe von Berlin veranstaltete das Team unter anderem ein offenes Frühstück mit geretteten Lebensmitteln, bot in Kooperation mit der BUND Jugend eine „Foodsharing Disco“ an und stellte Festival-Besucher*innen mit einem „Blind schmecken“ Workshop auf die Probe. „Das offene Frühstück war toll besucht und es konnten viele Fragen beantwortet und diskutiert werden“ schwärmt Mailin von ihrem Einsatz beim Feel Festival.
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So sehr der Samstag eher ein Ausharren war, so sehr kann man am Montag beim Hurricane nun schon mal schnell die Übersicht verlieren. Der Fairteiler im Foodsharing-Zelt füllt sich rapide, die Info, sein Essen dort abzugeben statt wegzuschmeißen, hat sich im kleinen Maße unter den Besucher*innen rumgesprochen. Die restlichen Foodsaver des Teams strömen aus, um Infos und Lebensmittel zu sammeln, die übrig geblieben sind: So begleitet eine Abordnung von Team-Mitgliedern die Müll-Traktoren des Hurricane Festivals und sammeln vor allem zahlreiche Konserven auf dem Camping-Gelände ein. Andere beginnen die bereits angereisten Tafel-Transporter unter Mithilfe der Tafel-Mitarbeiter*innen zu beladen, immer mal wieder gibt es Neuigkeiten. So kommt Felix zwischenzeitlich zum Zelt und erzählt, er habe mit dem Frühstücks-Zelt auf dem Camping-Gelände gesprochen – aufgrund von geringen Absatzes dank des miesen Wetters habe man jetzt noch anderthalb Paletten Joghurt übrig und diverse andere Lebensmittel, unter anderem Cornflakes und co.
Eine vorläufige Abschätzung lässt uns alleine die übrig gebliebenen Konserven-Dosen auf knapp 1600 Dosen schätzen. Dosen lässt man eben am ehesten zurück, um sich Gewicht zu sparen! Gut im Trend liegen aber auch Instant-Kaffee Packungen, Kekse & Chips, vegetarische Grillwürstchen und co – Fleisch darf und kann kühltechnisch nicht angenommen werden. Irgendwie eine interessante Repräsentation, was das Festival-Volk so anschleppt!
Die letzten Arbeitsstunden sind dann doch noch echt mühsam am sechsten Tag auf dem Scheeßeler Festivalgelände. Die Tafelmitarbeiter*innen verabschieden sich, loben das Team für den Einsatz und, speziell in diesem Jahr, das
Durchhaltevermögen, der Rest wird auf die verschiedenen Autos aufgeteilt und in den Heimatstädten weiterverteilt. Oder, wie im Falle von zwei Team-Mitgliedern, in die Lastenräder gepackt und so bis nach Hamburg gebracht!
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Was bleibt ist das Fazit. In den letzten Jahren hat sich die Festival-Kultur stark gewandelt – dreckiges Event für eine Nischengruppe ist es definitiv nicht (mehr)! Ähnlich, wie die früher eher normalen Zustände von dreckigen & zu wenigen Dixies zum Festival-Chanson gehörte, rüstet nun ein Festival wie das Lollapalooza auf ganze Dixie-Armeen um, um den Kritik-Punkt des vorherigen Jahres zu kontern. Nachhaltigkeit zu ignorieren wird in Zukunft nicht mehr funktionieren und da zeigt das Hurricane, dass es Initiativen wie Foodsharing Platz und Spielraum bietet, dafür zu kämpfen, Festivals ein kleines bisschen grüner zu machen. Das ist erst ein erster, aber wichtiger Schritt.
28. Juni 2017 um 14:35
[…] Option, und Aktionen wie das Foodsharing-Mobil, das dieses Jahr eingeführt wurde, nehmen zu. Was z.B. foodsharing auf Festivals macht, haben wir letztes Jahr in einem Bericht nachgezeichnet. Eine weitere tolle Innovation war das Projekt “Panama”, bei dem bedrängte Menschen […]
8. August 2019 um 16:53
[…] Bilderbuch beeindruckte mit einer ausgefeilten Produktion mit kleinen Details wie Lavalampen und – einem Kühlschrank auf der Bühne, Trettmann spielte neue Songs vom kommenden Album vor wabernden Nebel, Campino ermahnte die Besucher*innen, dass Sie gefälligst ihre “scheiß Zelte” mit nach Hause nehmen sollen. Auch, wenn Hanseatic Help versucht, im Rahmen der langjährigen Nachhaltigkeitsstrategie des Hurricane Festivals so viele Zelte wie möglich vor dem Müll zu retten, hörten wohl nicht alle Besucher*innen auf den Toten-Hosen Sänger; so zumindest das Bild am Montagnachmittag! Neben anderen Nachhaltigkeits-Iniativen wie Ständen von BUND, dem Blauen Engel, Goldeimer Toiletten war auch dieses Jahr wieder Foodsharing vor Ort; wir berichteten bereits 2016. […]