Das Hurricane Festival 2023 ist gerade erst vorbei, da verkauft FKP Scorpio am ersten Tag des Vorverkaufs fürs Hurricane Festival und Southside Festival zusammen 50.000 Tickets, ein Rekord. Und das, obwohl in den sozialen Medien im Vorfeld sowie beim Festival selbst auch enorm Gegenwind kam – kein Festivalsupermarkt, viel zu wenig Wasserstellen auf den Campingplätzen, zu wenig Frauen im Line-Up (gerade in den Headliner-Riegen), und nicht zuletzt die doch sehr unglückliche Bestätigung von Marteria als letzter Headliner, kurz nachdem dieser im Kreuzfeuer stand für Vorwürfe der Gewalt gegen seine Freundin in den USA. Vor Ort aber zum Großteil: Hauptsächlich ganz viele glückliche Gesichter, die aber auch zwischendurch kurz bitter schlucken müssen, wenn dank Inflation das Bier für 6,50€ verkauft wird.
Die sozialen Medien-Kommentare sind dann doch vielleicht etwas fokussiert auf das negative, verstärkt durch sensationslüstige Click-Bait Artikel. An den Kritikpunkten ist dennoch zum Teil was dran – aber alles im Allem hat das Hurricane Festival 2023 dieses Jahr doch mal wieder sehr viel sehr richtig gemacht. Bei der Pressekonferenz am Sonntag erklärt Stephan Thanscheidt noch mal, dass man mit Hochdruck daran arbeite, in Zukunft wieder einen Festivalsupermarkt auf das Hurricane Festival zu holen. Insgesamt ist es allerdings wohl eher eine Frage der Supermarkt-Ketten, sich darauf einzulassen, als eine Entscheidung von FKP Scorpio. Aktuell laufende Kooperationen bei anderen Festivals stammen zumeist noch aus Alterverträgen, in Zeiten von Personalmangel sind Supermärkte skeptisch, sich den Aufwand mit gestiegenen Kosten zu leisten. Zu hoffen wäre es natürlich trotzdem: Für viele Festivalbesucher*innen, gerade für diejenigen, die per Zug anreisen, ist ein Festivalsupermarkt eine enorme Erleichterung.
Die Problematik der Wasserstellen ist aber ein tatsächliches Problem: Gerade zu den fürs Hurricane ja fast ungewöhnlich heißen Tagen und gutem Wetter ist eine ausreichende Versorgung mit Leitungs- bzw. Trinkwasser von Seiten des Festivals eine eigentlich selbstverständliche Sache. In noch heißeren Bedingungen (aber weniger staubigen) haben andere Festivals in den vergangenen Jahren auch schon mal zusätzlich abgefülltes Wasser ausgegeben. Nachdem das Hurricane in der Vergangenheit bereits in eine Kanalisation investierte, um gegen starke Niederschläge wie 2016 gerüstet zu sein, muss sich das Hurricane, ähnlich wie andere Open-Air Festivals, künftig dank der Effekte der Klimakrise auf stärkere Hitzewellen, Trockenheit und Staub vorbereiten. Eine „Blitzdürre“ in Verbindung mit den Aufbau-Arbeiten im Vorfeld des Festivals sorgte dieses Jahr für den staubigsten Festival-(Frei)tag, den ich je gesehen habe. Die Donots feuerten die Staubwolke vor der Green Stage noch mit ausgiebigen Circle- und Moshpits an. Auch Kraftklub waren vor der Blue Stage in der Freitagnacht überrascht, wie staubig es tatsächlich ist, als sie sich für zwei Songs ins Publikum gesellten. Witzigerweise schaffte es das Hurricane trotz sehr guter Wetteraussichten am Wochenende ein kurzen Regensturz abzubekommen. Mittlerweile bin ich fast überzeugt, dass man Dürren wie in Spanien, Frankreich und Portugal damit lösen könnte, das Hurricane Wochenende für ein Wochenende dort zu veranstalten. Das scheint den Wettergott zu sehr zu reizen, einen ordentlichen Regenschauer vorbei zu schicken. Der Staub war daher Samstag Abend kein Problem mehr.
Die Kritik gegenüber Festivals (nicht nur gegenüber dem Hurricane!), dass deutlich zu wenig weibliche Acts gebucht werden, ist (berechtigterweise!) in den letzten Jahren immer lauter geworden, etwas stärker noch gegenüber dem Konkurrenten-Zwillingsfestival Rock am Ring / Rock im Park. Das Hurricane Festival musste dieses Jahr erneut heftige Kritik einstecken, nachdem keiner der Headliner (insgesamt ja immerhin 9, in der Logik der Hurricane Festivalplakate) eine weibliche Beteiligung vorweisen konnte (von der teilweise weiblichen Live-Band von Casper mal abgesehen). Auch wenn der öffentliche Druck diesbezüglich überhaupt nicht nachlassen sollte, tut man dem Hurricane Festival da stellenweise aber auch unrecht: Viele zahlende Fans wollen dann doch die altbekannten Acts im Scheinwerferlicht und bezahlen auch gut für Headliner wie Die Ärzte, Die Toten Hosen, Muse, Foo Fighters, und so weiter. Dass nur wenige Frauen in die oberen Riegen der Headliner Acts aufgestiegen sind, liegt teilweise sicherlich an Festivals, die weibliche Acts für die oberen Slots aus Sorge vor ausbleibender Profitabilität ungern buchen, letztlich aber auch inherent an der Musikindustrie als solche. Für mich war Florence & The Machine beim Hurricane Festival 2015 einer der überzeugendsten Headliner, die ich auf dem Festival gesehen habe. Warum zum Beispiel Branchengiganten wie Paramore zuletzt vor 13 Jahren auf dem Hurricane Festival gebucht waren, ist mir nicht ganz verständlich. Im Vergleich zu Festivals in anderen Ländern (Glastonbury, Primavera Sound, Sziget, Coachella, etc) bleiben die deutschen Branchenprimusse RIP/RAR und Southside/Hurricane erstaunlich konservativ im Booking, zumindest bei den Top-Acts. Vielleicht sind deutsche Besucher*innen einfach vergleichsweise wenig bereit für Veränderung?
Denn im Gesamtbild des diesjährigen Festivals waren durchaus hervorragende weibliche Acts zu finden. Multiinstrumentalistin Tash Sultana hat mit ihrer Loop Station und ihrer Show wohl einige auf dem Festival überrascht, die noch nie von ihr gehört hatten und legte einen umwerfenden Auftritt hin. Shooting Star Nina Chuba übte zwar noch, wie Publikumsinteraktion am besten funktioniert, empfahl sich aber, empfangen in breitem Jubel, bereits dafür, künftig größer auf den Line-Up Plakaten gedruckt zu werden. So voll wie bei ihr hab ich das In-Field an einem Sonntag um 13:45 noch nie erlebt. Cleveres Booking vom Hurricane Team, absolut deplatziertes Timing. In den ersten Timetables sollte Nina gar auf der kleineren Red Stage spielen – liebes Hurricane, wir wissen doch eigentlich, dass ihr das besser könnt! Während Nina quasi im Alleingang den gesamten Werbeetat von Lillet überflüssig gemacht hat und sicherlich einen merkbaren Anstieg der Preise von Villen in Katanien zu verantworten hat, schaffte es das Hurricane wohl nicht, die Beliebtheit von Nina richtig einzustufen. Badmómzjay ihrerseits war als quasi Headlinerin der roten Stage noch nach Trettmann sehr gut in ihrem Zeitslot aufgehoben und lieferte selbstbewusst ab. Auch der Indie-Pop von Chvrches und Gayle, Domizianas Hyper-Pop und der frühe Mittagsslot von Power Plush überzeugten. Gerne mehr davon, liebes Hurricane Festival!
Neben einem großartigen Auftritt von Peter Fox war allerdings Casper wohl der Auftritt des Wochenendes. Caspers Shows sind durchdacht, mit einem Händchen für die ganz großen Showgesten, aber auch detailverliebte Elemente wie das Blumensetting mit Baum als Bühnenbild. Als ich schon dachte, das Set kenne ich aus letztem Jahr Rock im Park, zauberte Casper zur Mitte der Show ein B-Bühnenelement aus dem Hut, das sich gewaschen hat: Eine Traversenbrücke mit LED Band, Showbeleuchtung, schneidenden Lasern und Flammenwerfern! Selten hat mich ein Künstler mit einem Showelement so sehr überaschen, umhauen und überzeugen können wie das aufwändige Showdesign von Casper auf der B-Bühne. Von rotziger Verachtung und Features mit Kollegah in den frühen Jahren von Casper zu empowernden Botschaften bezüglich Depressionen und psychischen Krankheiten und politischen Botschaften in Richtung iranischer Frauenbewegung zeigt Casper, wie sehr er im Rampenlicht gewachsen ist. Auffällig lediglich: Obwohl die Feature-Gäste Tua und Drangsal ohne eigene Auftritte beim Festival mit dabei waren, zeigte sich der nur kurz zuvor auf der Green Stage aufgetretene Marteria nicht – trotz gemeinsamen Albums vor einigen Jahren. Ob aufgrund von logistischen Notwendigkeiten oder weil ein Auftritt von Marteria in die gereifte, reflektiertere Show von Casper nun nicht mehr reinpasst nach den Vorwürfen gegen Marteria? Schwer zu sagen.
Marterias Auftritt selbst wurde ungewöhnlich unenthusiastisch vom Publikum begleitet. Ein mulmiges Gefühl war im Publikum und den Gesprächen zu spüren, deutlich mehr Männer, als ich es sonst von Marteria Auftritten gewöhnt bin und ein nur ungenügendes, schwammiges bis fragwürdiges Statement von Marteria von der Bühne in Form eines diffusen Aufrufes gegen Gewalt zeigen, dass es offen bleibt, ob Marteria wieder zurück zu seinem alten Platz in der Musikszene schafft.
Auf der anderen Seite der Medaille hat das Hurricane das „Panama“ – Konzept weiter ausgebaut: Was FKP Scorpio als erstes Festival in der Größe 2017 probeweise mal eingeführt hat, wurde mittlerweile von anderen Festivals so oder so ähnlich, und gar in Fußballstadien übernommen. Das Hurricane Festival selbst hat dieses Jahr das Konzept weiterentwickelt und ein zusätzlich auf dem Festivalgelände präsentes Awareness-Team eingesetzt. Wichtig und richtig!
Also: Insgesamt lieben wir unser Hurricane Festival! Vielleicht muss man auch einfach die richtigen Fragen stellen, um positive Geschichten von begeisterten Festivalbesucher*innen auf Social Media zu hören, wie ein grandios amüsanter Post des Festivals bzw. zugehörigen Kommentare darunter beweißt. Manche Dinge laufen gut, andere nicht so gut, meistens lernt das Hurricane aber dazu. Nachdem es im letzten Jahr nur einen einzigen Zugangspunkt zum In-Field gab, wurde dieses Jahr der Besucher*inneneingang an der Red Stage wieder zurück gebracht. Das gab dann auch nicht mehr solche Engstellenprobleme wie letztes Jahr bei Deichkind. Warum nach dem Late-Night Act Kraftklub genau dieser Ausgang von den Securities blockiert wurde und niemand mehr rausgelassen wurde? Man weiß es nicht. Hoffentlich lernt das Hurricane Festival auch daraus. Spannend außerdem: Nach dem großen Debakel rund um die ans Festivalbändchen integrierten RFID Chips zum Bargeldlosen bezahlen im Jahre 2015 scheint FKP Scorpio sich noch immer davor zu scheuen – selbst, nachdem andere große Festivals das mittlerweile bereits routiniert und relativ fehlerfrei einsetzen. Einige Lehren des Festivals scheinen beim Hurricane also noch lange in Erinnerung zu bleiben. Wenn ihr noch Anmerkungen loswerden wollt, wie es in Zukunft besser laufen sollte: Aktuell läuft noch die alljährliche Besucher*innenumfrage vom Hurricane.
Das Hurricane 2024 findet am 21.-23. Juni 2024 statt. Hier könnt ihr dazu schon Karten kaufen!
15. Mai 2024 um 15:51
[…] Hier findet ihr noch mal zum Nachlesen, wie es letztes Jahr beim Hurricane Festival 2023 war. […]