Das war Deichbrand 2019: Heilige Muschis, kollektives Kniebeugen, musikalische Sozialkritik und ein Heiratsantrag

News am 9. August 2019 von Henrike Kolletzki

Im hohen Norden, zwischen Feldern und Wiesen, durchbrachen auch in diesem Juli über 60.000 Festivalfans die ländliche Idylle. Vier Tage lang tauschten sie wieder Bett gegen Matte, Bad gegen Dixi und Schlaf gegen Beat.

Die großen Auftritte wechselten zwischen Feuer und Wasser und der Himmel tat es ihnen gleich. Mal schmolz das Publikum vor der Water Stage in brennender Julisonne dahin, mal wurde es vor der Fire Stage vom Regen durchnässt. Ein Festival mit Gegensätzen, die manches Mal wunderschöne Regenbögen entstehen ließen. Vom Deichbrand 2019 berichten die Festivalhopperinnen Henrike und Hannah.

Über 100 Acts versammelte das diesjährige Deichbrand und verteilte sie auf insgesamt 6 Bühnen. Im Infield konnte das Publikum wie jedes Jahr entspannt zwischen der Fire und Water Stage hin und her pendeln und in einer großen Masse den Headlinern zujubeln oder zur Abwechslung das Alternativ-Programm im Palastzelt genießen. Die Tanzwütigen kamen auf der Electric Island ganz auf ihre Kosten zu den Beats von Charlotte de Wittte, Giorgia Angiuli, Lexer, La Fleur und vielen anderen bekannten DJs.

Ganz neu war in diesem Jahr die Disco!Bay Bühne, die ebenfalls im Infield aufgebaut war und all diejenigen mit der Extraportion Bass und Party versorgte, die sich auch nach Mitternacht noch nicht ausgetanzt hatten. Auch die Jever Hafenbar bot ein tolles Late-Night-Programm in gemütlicher Kneipenatmosphäre. Selbst wenn die Hauptbühnen schon erloschen waren, ging es hier noch weiter mit guten Auftritten wie denen von Adam Angst oder Marathonmann.

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Es ist DONNERSTAG und das Festival startet taktvoll auf der Electric Island. Vargos chillige Beats bieten den Auftakt für einen entspannten und abwechslungsreichen ersten Festivaltag. Die frühen Vögel, die schon gelandet sind oder langsam noch eintrudeln, können sich mit kleineren Auftritten wie von Betamensch, Die Happy, Subway to Sally und Magma Waves schon mal auf das fette Programm der nächsten Tage einstimmen. Das Hauptprogramm startet am FREITAG mit Skindred und Chefboss, parallel dazu gibt es die erste Runde des dreitätigen Poetry Slams, der am Sonntag seine*n Sieger*in küren wird. Mit kreativer Wortkunst geht es direkt weiter, als danach Sookee die Bühne betritt und ihre stimmungsvollen, häufig auch sozialkritischen Songs performt. Auch auf den Main Stages tummeln sich an diesem Tag viele deutschsprachige Bands wie Wanda, Samy Deluxe und Fettes Brot. Ursprünglich waren auch Feine Sahne Fischfilet eingeplant, die jedoch absagen mussten und kurzerhand durch die Band Clowns ersetzt wurden. Die Konfettibombe schießen am späten Abend Thirty Seconds to Mars auf der Fire Stage ab und im Palastzelt wird noch bis in den frühen Morgen zu Amelie Lens und Farrago gefeiert, bis die Letzten schließlich im Sonnenaufgang für ein kurzes Nickerchen in ihre Zelte kriechen. Zum Glück startet das Programm am SAMSTAG erst mittags mit den DEICHBRAND Festival 2019 // Mitwoch // Foto: Tobias KästnerDonots und Deaf Havana. Wer den Tag schon früher beginnen möchte, kann dies mit einer Runde Yoga oder Hula Hoop im Green Circus tun. Dort gibt es neben viel Glitzer und sportlichen Aktivitäten auch entspannende Workshops wie ein Massage Coaching. Die Kampfgeister können sich nachmittags hingegen in der Flunkyball Arena austoben. Die Abendstunden werden eingeläutet von The Kooks – ein wunderschöner Auftritt mit einer sehr gefühlvollen und sommerlichen Atmosphäre.

Wer traurig ist, SXTN nach deren Auflösung nicht mehr wie noch beim Deichbrand vor zwei Jahren gemeinsam auf der Bühne zu feiern, konnte die beiden Mädels an diesem Wochenende zumindest (fast) hintereinander live auf der gleichen Bühne erleben.
„Prost ihr Säcke!“, ruft Nura Samstagnacht in das brechend volle Palastzelt und laut grölt das Publikum altbekannt zurück „Prost du Sack!“

Während ihres Auftritts habe ich durch ihre lockere, offene Art manchmal eher das Gefühl, gerade mit ihr zu chillen als eine Show anzusehen. Zwischen den Songs quatscht sie immer wieder mit dem Publikum, holt sich natürlich wie jedes Mal ihren Kiffpartner auf die Bühne und fordert uns alle zum Gruppenkuscheln auf. Doch dieses Mal belässt Nura es nicht dabei, das Publikum näher zusammenzubringen – sie schafft in ihrer Show sogar Raum für einen Überraschungs-Heiratsantrag auf der Bühne.
„Ich habe meiner Freundin nur gesagt, ich hätte ein Foto mit Nura für sie organisiert“, sagt der junge Mann ins Mikro. „Das stimmte natürlich nicht!“
Die ersten kreischen.
Dann geht er unter dem lauten Klatschen und Jubelgeschrei der Menge auf die Knie. Sie sagt Ja und tanzt anschließend an der Hand von Nura zu Habibi.
Noch mehr Liebe liegt nur in der Luft, als Nura am Ende ihres Auftritts ins Publikum springt. Zum Abschied streckten alle ihre Hände hoch und formten die Heilige Muschi. Viva la vida, viva el amor, viva la vulva.

Für mich kommt in diesem Jahr das Beste zum Schluss. Ausgerechnet Alligatoah, Marsimoto und Juju hat das Deichbrand sich für die allerletzten Stunden des Festivals aufgehoben und somit wird dieser Abend ein krönender Abschluss von vier großartigen Tagen.

Begonnen hat mein SONNTAG mit dem Auftritt der Arkells. Die vier schicken Jungs kamen aus Kanada angereist und ihre abwechslungsreichen, oftmals politisch motivierten und originellen Lieder und ihre lockere, sympathische Show sind ein perfekter Start in den Tag. Anschließend begebe ich mich in das Palastzelt, wo Menschen dicht an dicht auf dem Boden sitzen und andächtig den Finalisten des Poetry Slams lauschen, die über Religion und Liebe und über Tankstellen und Mindestlohn sprechen. Den Fresskorb mit Thüringer Würstchen und anderen Leckereien gab es schließlich für Jean Philippe Kindler, der in seinem sozialkritischen Text Mindeshohn von Petra erzählt, die für 14 Cent pro Minute in einer Tankstelle arbeitet und sich nicht nur mit Geldproblemen, sondern auch noch mit herablassenden Kommentaren auseinandersetzen muss. Schon während seines Vortrags gibt es begeisterte Zwischenrufe für Jean Philippe und tosenden Beifall, als er schließlich zum Sieger gekürt wird – nicht zum ersten Mal übrigens. Nahezu ruhig wirkt dagegen das Konzert von Tom Walker, das währenddessen draußen auf der Water Stage begonnen hat.

DEICHBRAND Festival 2019 // Donnerstag // Foto: Tobias KästnerEntspannt, fast besinnlich, geht es weiter mit Kodaline. Der Sänger sitzt mit seiner Gitarre auf einem Stuhl, schließt gerne die Augen und das Publikum tut es ihm gleich. Das Festivalgelände ist gesäumt von Sitzdecken und kuschelnden Pärchen. Weitaus belebender ist hingegen der Auftritt von Mine, die anschließend im Palastzelt für ausgelassene Stimmung und ein begeistertes Publikum sorgt. Als ich von einer kleinen Stampfrunde zu den Beats André Winter auf der Electric Island zurück zum Hauptfeld komme, wundere ich mich über den riesigen Menschenauflauf, der sich längst nicht mehr nur auf den Platz vor der fire stage beschränkt. Dicht an dicht stehen die Leute hier, um Madsen zu sehen. Fast nehmen sie Frontmann Sebastian seinen Job ab, indem sie lauthals jedes Lied so textsicher mitsingen, dass seine Stimme fast überflüssig wird und beweisen darüber hinaus, dass sie sogar jegliche Gitarrenriffs mitsingen können. „Jeder von uns ist nur ein einzlener Furz, doch gemeinsam können wir Geschichte schreiben!“, ruft Sebastian und fordert uns auf, die richtige Geschichte zu schreiben und nicht eine, die von Diskriminierung und Ausgrenzung geprägt ist. Singend zieht die Menge anschließend weiter zu Cro.

Mein erstes großes Highlight an diesem Abend ist Alligatoah. Seine Show ist einfach von vorne bis hinten genial. Meiner Meinung nach hat niemand sonst so ein großes Maß an Kreativität, Abwechslung und Humor bei der Ausgestaltung seines Auftritts geboten wie er. Hinzu kommt ein unglaublich aufwendiges und originelles Bühnenbild. Mit jedem Song wechselt die Szenerie und zeigt stets eine neue Facette seines Hotels Kaliforniah, das als

Kulisse des Auftritts dient. Aus einer Mülltonne heraus animiert Alligatoah schließlich das gesamte Publikum zu einer Runde Spätsport – Kniebeugen am Sonntagabend. Sogar die Security im Graben macht mit. Anschließend kündigt er an, 27 mal seinen ersten großen Erfolgshit Willst du zu spielen. Tatsächlich fehlen die angekündigten 26 weiteren Male noch. Alligatoah, wir haben was gut bei dir!

Viel, viel grünen Rauch gibt es anschließend bei Marsimoto. Die gesamte Water Stage ist in die Farbe des grünen Planeten gehüllt und während ich im Graben fotografiere, umgibt mich aus den ersten Reihen der starke Duft von vielen brennenden Joints.

Der Auftritt von Marsi begann vielversprechend und fast wäre ich in der lockeren Atmosphäre versunken, doch nach nur zwei Liedern stürme ich wie so viele

zum Palastzelt, um bloß nicht zu verpassen, wie Juju auf die Bühne rennt und mit dem Lied Coco Chanel ihre Show startet. Es folgten Songs über Bling Bling, Liebe und Kiffen, natürlich ein „Prost, ihr Säcke!“ und eine Zugabe. Juju hat Recht, wenn sie rappt: Alle rasten aus, weil ich rappe gerade live, Bitch!

Die große viertägige Festivalparty endet schließlich mit den Jungs von Frittenbude.

Das Festivalgelände liegt im Regen, als wir am nächsten Morgen abfahren. Den meisten Menschen steht ein deutliches Schlafdefizit ins Gesicht geschrieben, aber auch eine große Portion Glück. Das Deichbrand 2020 wird vom 16.-19. Juli 2020 stattfinden.

Ein Kommentar zu “Das war Deichbrand 2019: Heilige Muschis, kollektives Kniebeugen, musikalische Sozialkritik und ein Heiratsantrag”

  1. Nummer 1: Dropkick Murphys und viele weitere fürs Deichbrand! sagt:

    […] Hier gehts zu unserem Deichbrand Festivalrückblick 2019: “Das war Deichbrand 2019: Heilige Muschis, kollektives Kniebeugen, musikalische Sozialkritik und ein …“ […]

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