The Hangover haben wir uns am Samstag beim Pinkpop 2013 im Freiluftkino auf dem Festivalgelände nicht angeguckt. Hätten wir eh nicht verstanden. Zu abstrakt. Wer uns mit vier Bier in der Tasche das Konzept eines alkoholinduzierten Gedächtnisverlustes näher bringen will, muss das schon auf Sesamstraßenniveau tun.
[Und Action! – Pinkpop-Tag Nummer III – das Finale.]
Zum Trinken kommen wir aber ohnehin kaum. Nicht, weil auf den Campingplätzen trotz guten Wetters die Biergartenstimmung fehlt, sondern weil ständig auf mindestens einer der drei Bühnen ein Künstler oder eine Künstlerin steht, den oder die man unbedingt gesehen haben muss.
Das Paradebeispiel hierfür liefert uns am Sonntag Lianne la Havas. Die charismatische Londonerin mit der warmen und doch klaren Soul-Stimme schreitet um 15:40 Uhr ohne jegliche Begleitung im Kleid mit hochgebundenen Haaren auf die Bühne des Brand Bier Zeltes. Von links wird eine Gitarre angereicht. Schnell ertönt aus unseren Reihen der verbalisierte Ersteindruck. „Hui!“
Nach einer sehr intimen Solo-Performance wird die Kulisse mit Band und Back-Up-Sängerin gefüllt. Zu den warmen Soul-Klängen von Elusive wippt das Publikum noch langsam mit.
Mit langsam und warm ist das stilistische Spektrum von Fräulein la Havas, das von „schnödem“ Pop über Soul und Jazz bis zu Funk hin reicht, aber bei weitem noch nicht abgedeckt. Zu Forget wird zusammen mit dem Publikum ein neues Intro improvisiert. Als das fertiggestellte Werk von den Anwesenden mitgesungen wird, stellen sich die Armhaare auf. Gänsehaut. Bei über 22°C im Schatten. Zu dem fetzigen Eingangsriff können wir nicht anders als gospelchormäßig mit dem Kopf zu wackeln und mitzuklatschen.
Jeder Moment wirkt auf irgendeine Weise besonders. Anmutig, stilvoll, ehrlich, aber irgendwie auch verdammt cool trägt die Dreiundzwanzigjährige in Age ihre persönlichen Erfahrungen dem Publikum vor, bevor sie mit Gone in einem hoch emotionalen Song, nur von einem Klavier begleitet, ihr brachiales musikalisches Talent unter Beweis stellt.
Einer großen Show bedarf der Auftritt nicht. Anblick, Stimme und Instrumentalbegleitung allein ziehen uns über die volle Stunde, die die Britin auf der Bühne steht, in ihren Bann. Vielmehr lässt sich zu diesem Auftritt auch nicht sagen. Die große Geste besteht bei Lianne la Havas in ihrer Musik und in ihrem Auftreten und beides ist leider nicht wirklich in Worte zu fassen.
Während wir bei Ellie Goulding am Vortag noch diplomatisch von dem Verpassen eines unfassbaren Singer/Songwriter-Talentes gesprochen haben, müssen wir bei Lianne la Havas leider ganz klar sagen: Wer sich das bewusst entgehen lässt, hat einfach ’ne Macke. Absolute Weltklasse.
Als wir die Brand Bier Stage verlassen, klatscht uns zunächst einer dieser ekelhaft großen Sammeltropfen vom Rand des Zeltdaches direkt auf die Kopfhaut. Wolken! Regen! Als wirvor einer Stunde in das Zelt traten war noch bestes Sommerwetter. Auf dem Vorplatz des Brand Bier Zeltes sind trotz bisher nur weniger gefallener Tropfen in Antizipation des Schlechtwetters schon zahlreiche Holländer in pinke Regenponchos gehüllt. Wir bleiben optimistisch und latschen heiter bis wolkig im T-Shirt zur 3FM Stage. Dort angekommen erwartet uns auf der Bühne ein komplett schwarz gekleideter Mann mit Gitarre.
Der Wolkendecke zum Trotz steht Frontmann Kelly Jones von den Stereophonics mit Sonnenbrille auf der Bühne und gibt Material vom neuen Album Graffiti on the Train zum Besten. Die ersten Tracks vom neuen Album sind für die Stereophonics ungewohnt hart, aber immer noch catchy. Mit dem Titeltrack Graffiti on the Train und dem darauf folgenden End of Summer kehren die fünf Amerikaner aber recht zügig wieder zu ihrer bekannten, leicht melancholischen Pop-Rock-Stilistik zurück. Das nicht mehr ganz so gute Wetter verhindert das Entstehen einer Chill-Out-Atmosphäre. Was bei Phoenix am Vortag dank Abendsonne noch super funktioniert hat, lässt Petrus heute leider nicht zu. Während sich in der Menge in rockigeren Teilen des Sets durchaus einiges bewegt, wird zu langsamerem Material eher geschwiegen und in der Landschaft gestanden. Als am Ende des Auftritts Dakota gespielt wird, erwacht das Publikum zwar noch mal kurz zum Leben, zu diesem Zeitpunkt haben sich die Reihen aber schon stark gelichtet. Die Band verabschiedet sich mit einem kurzen „Thank You“ von der Bühne. Kein schlechter Auftritt. Wir haben aber den Eindruck, dass das Material der Stereophonics leider nicht ganz wetterfest ist.
Auf der Brand Bier Stage spielen auf dem nächsten Slot Alt-J. Noch bevor die vier Briten auf die Bühne treten, gibt es reichlich Vorab-Lorbeeren. Jede ersichtliche Bewegung hinter der Bühne wird mit Schreien und Applaus kommentiert. – Offenbar haben die Newcomer aus Leeds eine nicht zu unterschätzende Fanbase in den Niederlanden. Mit einem langen Ambience-Intro ohne Vocals betreten die Mitglieder der Band die Bühne. Jubel, Applaus. Das Publikum lauscht gespannt der Musik der vier Briten, die sich am besten als Ambient-Alternative-Pop beschreiben lässt und mit fokussierten Vocals, sowie einem breiten Synthesizer- und Bass-Fundament durch das Zelt wummert. Sofern der Takt es zulässt (und das ist bei Alt-J tatsächlich stellenweise problematisch), wird getanzt. Das Zelt ist stark bevölkert, aber bei weitem nicht so überfüllt wie bei C2C am Samstag. Nach wenigen Songs dürstet es uns nach einer etwas härteren Gangart. Gewünscht – gewährt.
Bei Triggerfinger auf der 3FM Stage geht’s nämlich zur gleichen Zeit ganz anders zur Sache. In der klassischen Instrumentalkombination Gitarre – Schlagzeug – Bass beschallen uns die drei Belgier mit feinstem Hardrock. Zu wuchtigen Riffs bewegt sich hier schon wesentlich mehr als im Zelt bei Alt-J. Da muss man schon mal kurz mit den Ohren schlackern. Schlagzeuger Mario Goossens und Bassist Paul Van Bruystegem stehen mottogemäß in Pinken Anzügen auf den Brettern in gut drei Metern Höhe.
An der Front steht Sänger und Gitarrist Ruben Block. Der schaut schon etwas anders aus. Schwarzer Anzug, schwarze Schuhe, blonde Telecaster, graue Haare, Bart. Wir wollen hier zwar nicht in den „Kompetenzbereich“ der InTouch abdriften, aber viel cooler kann man in diesem Universum einfach nicht aussehen. Und das ist im Fall von Triggerfinger nicht einmal mehr Schein als Sein. Bei einer Rock & Roll Stimme, die seinesgleichen sucht, und einem rotzigen Gitarrensolo nach dem anderen fällt uns vor der 3FM regelmäßig jegliche Fassung aus dem Gesicht. Kein Wunder, dass im Zelt nicht so richtig viel los war. Die Rasenbesetzung vor der zweitgrößten Bühne umfasst zu diesem Zeitpunkt mehr Zuschauer als bei den Queens of the Stone Age am Freitag. Ob das an guter Nachbarschaft oder dem regionalen Musikgeschmack liegt, spielt für uns keine Rolle. Die Stimmung ist großartig. Alles andere zählt nicht.
Als wir nach einem dieser Oh-mein-Gott-Gitarrensoli auf dem Boden nach unserer Kinnlade suchen, wirft sich Frontmann Ruben Block in die Menge. Endlich macht das mal einer! Warum hat das so lange gedauert? Zurück auf die Bühne. Kinnlade gefunden. Pause.
Unter dem Titel „Blödsinn mit Percussion“ spielt Mario Goossens, der Drummer mit den goldenen Schlagzeugschuhen (nein, das ist keine Floskel – der hat wirklich goldene Schuhe an!) für uns den Pausenclown. Total bescheuert, der Typ. Erinnert so ein bisschen an Bela B. von den Ärzten. Als die übrigen zwei Drittel der Band zurück auf die Bühne treten, steht zunächst seichteres Material auf dem Programm. Nach dem leiseren Mitsing-Cover von Lykke Li’s I follow Rivers mit rhytmischer Begleitung unter Verwendung diverser Haushaltsgegenstände aus Glas und Porzellan durch unseren Lieblings-Blödel-Entertainer Pinky Goldfuß treten die Vertreter der größten holländischen Pommeskonkurrenz aber wieder richtig auf’s Gas. Die Live-Version von Soon hat mit dem flauschigen Studiopendant so überhaupt gar nichts mehr zu tun. Kurz vor der Ziellinie rasten die Belgier auf ihren Instrumenten nochmal komplett aus. Singen, Tanzen, Schreien. Mit Is it geht der Auftritt unter krachender Geräuschkulisse zu Ende. Verbeugung. Applaus. Finish. Yessssss!
Die Belgier haben überzogen! Einfach in’s Set von Green Day reingespielt. Glücklicherweise ist das zweite Trio des Abends schon nach einem kurzen Schlenker um die 3FM Stage in Sichtweite. Auch die drei US-Amerikaner geben von Anfang an richtig Gummi. Unter dem mittlerweile wieder weitgehend freundlich anmutenden Abendhimmel schlagen bis weit hinter den Soundturm die Arme in der Luft zusammen. Nach ca. 40 Minuten wird der Radio-Modus angeschmissen. Beginnend mit Holiday, Boulevard of Broken Dreams und Stray Heart wird eine namhafte Nummer nach der anderen geschreddert. Im Break von Stray Heart kurze Ansage von dem Mann in der Mitte:
„Let’s get Crazy!!“
Als im Publikum mehrere entwendete Industrierollen Klopapier (die gute zweilagige Recyclingpappe) über den Köpfen der Zuschauer ausgerollt werden, unterbricht der besagte Mann in der Mitte – namentlich Billy Joel Armstrong – den laufenden Song und nimmt das Ereignis zum Anlass um Good Riddance (Time of your Life) anzustimmen. – Naja… bei der Assoziation kann man schon ein wenig schmunzeln. Bevor man sich all zu lange wundern kann, geht’s aber auch schon weiter mit Nice guys finish last. Nachdem bei Waiting lautstark mitgegröhlt wird, darf ein Fan wegen scheinbar besonders guter Schrei-Leistung auf der Bühne den Song fertig singen. Armstrong verschwindet komplett von der Bildfläche. Der Junge macht seine Sache richtig gut! Kleiner Moment – große Wirkung. Im Anschluss gibt’s eine Wasserdusche für die von der Hitze geschundenen vorderen Reihen. Publikumsanimation. Da wär’s doch nur fair im Anschluss auch trockene Klamotten zu verteilen! „Who wants a free T-Shirt!?“ schreit Armstrong, mittlerweile mit einer modifizierten Kartoffelkanone bewaffnet, in das Mikrofon. Vier bis fünf mal macht es laut FUMP! – die Comic-Blase muss man sich an dieser Stelle einfach dazudenken – und dann geht es auch schon weiter mit dem musikalischen Programm.
Während vorne im Publikum richtig die Post ab geht und sich auch am Rande immer wieder Grüppchen finden, die ausgelassen durch die Menge tanzen, sind ein paar Niederländer auf’s Zündholz gekommen. Wer jetzt Bilder von rauchenden bengalischen Feuern im Kopf hat, liegt knapp daneben. Die hätte man ja mitbringen und an der Security vorbeischmuggeln müssen. Außerdem ist Feuerwerk ja verboten! Innovativer Geistesblitz. In guter alter Monkey-Island-Manier werden Plastikbecher, Papptablette und Zündholz miteinander kombiniert. In dem umfangreichen Regelwerk steht nämlich nicht, dass man auf dem Festivalgelände keinen Müll verbrennen darf! Gedacht – gemacht. So eine Idee steckt an. Wenige Minuten später brennen überall im hinteren Publikumsbereich kleine Lagerfeuer und die Security rauscht mit übermäßigem Elan und zahlreichen Feuerlöschern bewaffnet unter unseren Nasen vorbei. Allerdings auch an dem Holländer, der – ungelogen – drei Meter vor uns auf dem Boden sitzt und schon wieder fröhlich zündelt. Während Green Day im Hintergrund When I come around spielen, macht Sisyphus mit dem Feuerlöscher unserer Wärme-, Licht- und Giftstoffquelle den Gar aus und zieht von Dannen. Bevor der Song endet, ist an gleicher Stelle aber schon das nächste MacGuyver-Bengalo aufgeschichtet und der halbe Platz in Rauch gehüllt. Die Security bleibt – nachdem sie sich im Publikum einigermaßen verteilt hat – ungewohnt gelassen. Die Zuschauer dürfen weiter zündeln. Wenn das Feuer zu hoch aufflammt, wird kurz auf den Knopf gedrückt. Kurzer Flachs mit den Hobby-Brandstiftern und der Spaß geht von vorne los. Rausgeworfen oder zusammengeschissen wird da niemand. So eine Gelassenheit würden wir uns für große deutsche Festivals auch mal wünschen.
Die ganze Fackelei hat uns irgendwie abgelenkt. Mittlerweile steht ein langhaariger Kerl mit Saxophon um den Hals in voller Schottenmontur auf der Bühne. Was der da wohl macht? Ska macht der da! Nach einem Medley aus You know you make me wanna shout und Always look on the bright side of life liegen Armstrong und Band am Boden. Die muss man scheinbar erst mal wieder von den Brettern zurück ins Leben klatschen. Die Reanimation wird mit einem weiteren Medley-Teil belohnt. Zu Hey Jude gröhlt alles mit, was nicht gerade Bier holt oder Feuer legt. Zurück zu You know you make me wanna shout. Breites Finish mit allen Instrumenten. Ohne Pause weiter mit X-Kid. Das Schottophon ist schon wieder von der Bühne verschwunden. Auch danach kaum Zeit für Applaus. Minority. Da muss man scheinbar vorne rein.
Nach gerade mal 2 Takten preschen die Menschen von den billigen Plätzen nach vorne in die undefinierte Masse hinein. Die Verbliebenen stehen oder tanzen in heiterer Atmosphäre um das offene Feuer. – Das hat doch auch was.
Nach Minority gehen Armstrong und Co kommentarlos und stocksteif in gekünsteltem Stechschritt von der Bühne. Es riecht nach Zugabe (und nach verbranntem Plastik).
Siehe da: Nach angemessenem Applaus und wohlwollenden Pfiffen stehen stehen die drei Punkrocker keine Minute später wieder auf der Bühne und spielen American Idiot. Plötzlich: Stille. Armstrong am Mikro. Naiver Unterton.
„Is that a wall of death?“
„I’ve never seen a wall of death before…“
„… can you show me?“
Was darauf folgt, kann sich jeder, der schon mal ein Rock-Festival besucht oder im Fernsehen angesehen hat, bildlich vorstellen. Platz machen, kräftig Anlauf nehmen und hoffen, dass man mit heilen Knochen und vollständiger Kauleiste auf der anderen Seite wieder heraus kommt. Auch an dieser Stelle: Endlich macht das mal einer! Warum hat das so lange gedauert? Kurz nach dem Ineinanderkrachen der Menschenmassen endet American Idiot. Im zweiten Teil des großen Rock-Finales wird aber zu Jesus of Suburbia nochmal gesprungen, geschrien, um sich geschlagen und getobt. Da braucht man schon ordentlich Puste. Nach dem über 9 Minuten langen Song machen auch die ausdauerndsten Duracell-Hasen vor der Bühne schlapp.
Akku leer. Ausgepowert.
Als Green Day nach zwei Stunden Dauerunterhaltung mit Brutal Love den letzten Song angestimmt haben, schlurften wir an der bereits halb abgebauten Brand Bier Stage vorbei, hinter der man vom anliegenden Berg aus gerade noch so die Sonne untergehen sehen kann. Wir verabschieden uns geistig von Headliner Green Day, Pinkpopgelände und -publikum. Zeit, kurz Bilanz zu ziehen.
Wir haben das Pinkpop 2013 – im positiven und im negativen Sinne – als sehr erwachsenes und besonders familienfreundliches Festival erlebt. Bei genialem Wetter haben wir viele große Talente und quasi keine schlechten Acts gesehen und dabei noch einige große Bands abhaken können, die uns bisher durch die Lappen gegangen sind.
Was dem Pinkpop aufgrund der vielen Regeln völlig fehlt, ist dieses wundervolle Gefühl eines herrlich absurden bis absolut behämmerten Ausnahmezustands, der einen die
Welt außerhalb der Festival-atmosphäre über’s Wochenende komplett vergessen lässt. Wer gerne in Ruhe ausschläft und sich danach lieber der Musik selbst widmet, als bis ins Nirvana Flunkyball zu spielen oder sich in der Mitte eines ausgewachsenen Rock-am-Ring-Moshpits zerhacken zu lassen, wird sich hier sicherlich wohlfühlen. Zum Ausrasten und Unfug treiben bieten aber andere Festivals mit ähnlich hochkarätigem Line-Up regelmäßig mehr Freiheiten und reißen dabei kleinere Löcher in die Brieftasche.
2. Dezember 2013 um 19:41
[…] Axel war dieses Jahr beim Pinkpop, hier geht es zu seinen unterhaltsamen Berichten: “Große Talente, kleine Feuer – Der Pinkpop-Sonntag 2013“, sowie zu “Zaterdag mit Graveyard, Ellie & den Kings” und “Regeln, […]