DEICHBRAND 2017 – von Regenbögen und Einhörnern

News am 26. Juli 2017 von Henrike Kolletzki

Wenn Gegensätze aufeinandertreffen, entstehen oftmals die schönsten Farbnuancen und spannendsten Zwischentöne. Das diesjährige Deichbrand Festival, dem es an Regenbögen und Einhörnern nicht fehlte, bewegte sich zwischen strahlendem Sonnenschein und strömendem Regen, im blau-roten Wechselspiel von Feuer und Wasser, mit einer bon menage aus genre- und länderübergreifenden Künstlerinnen und Künstlern und einem Publikum, das mal im Matsch versinkt, sich mal zu Höhenflügen im Riesenrad oder Helikopter aufschwingt, aber immer im Takt springt.

DEICHBRAND Festival // Foto: Tobias Kästner // @[148215211934345:Bildabuch]Es ist Freitagnacht, die Straßen entlang der Wurster Nordseeküste sind unbefahren und von wenigen Häusern und vielen Feldern umgeben. Die Gegend wirkt ländlich, idyllisch, ruhig. Doch der düstere Himmel wird durchbrochen von einem hellen Leuchten. Dort hinter den Gipfeln, wo der Fliegerhorst Nordholz liegt, wird es zwischen dem 20. und 23. Juli 2017 nicht Nacht.

Bis in die frühen Morgenstunden tanzen die Menschen hier geballt gegen Müdigkeit und Kälte an, auf der kleinsten und zugleich am dichtesten besiedelten Nordseeinsel Electric Island. Über 55.000 BesucherInnen bereisen dieses Jahr die riesigen Zeltplätze des 13. Deichbrand Festivals, tauschen vier Tage lang Bett gegen Matte, Bad gegen Dixi und Schlaf gegen Beat.

Die Sonne geht auf und es kehrt für einige Stunden Ruhe ein; lediglich die zahlreichen, über den Zelten kreisenden Möwen veranstalten ihre Luftkonzerte. Dazu eine frische morgendliche Meeresbrise – Willkommen im Norden!

Mit abwechslungsreichen Beats lockt BRKN zur Mittagsstunde dann die ersten Nachtgeister wieder aus ihren Zelten und animiert sie mit „Eins, zwei, drei: SPRINGEN!“ zu einer Runde Frühsport. Wer es erst einmal entspannter angehen möchte, kann dies beim Bieryoga tun, einem von zahlreichen Workshops, die dieses Jahr angeboten werden. Neben ihrer Gelenkigkeit können TeilnehmerInnen hier auch den perfekten Hoola Hoop-Hüftschwung trainieren, Jonglieren lernen, Inspirationen für leckere Smoothies mit nach Hause nehmen, den Körper mit Henna Tattoos verzieren oder sich im Barbershop eine messerscharfe neue Gesichtsfrisur verpassen lassen. Für das Sahnehäubchen an Festiwellness sorgt zudem ein eigens dafür eingerichteter Rossmann.

Mit Manual Kant, Fatoni und den Young Guns wird ein Mittagsmusikprogramm geboten, das genauso abwechslungsreich ist wie das zwischen strömenden Regen und strahlendem Sonnenschein changierende Wetter. Zumindest musikalisch vertreibt schließlich Patrice die letzten grauen Wolken – ein Kölner Reggae-Künstler, der den Süden in den Norden bringt. Und es bleibt trocken, trotz des angekündigten Gewitters – zur großen Freude von Donots-Frontmann

DEICHBRAND Festival // Foto: Tobias Kästner // @[148215211934345:Bildabuch]Ingo („Wie schön, dass man sich auf Scheiß-Wetterapps nicht verlassen kann!“), und weil es das perfekte Geburtstagswetter ist, holt er seine Mutter auf die Bühne und verkündet feierlich: „Unsere Mama wird heute 70!“ – was folgt, ist das wohl beeindruckendste Geburtstagsständchen, das sich Mama Reinhilde wünschen kann. Doch damit nicht genug an Extravaganz: Um dem Fernsehen etwas zu bieten (und sicher auch, um einen guten Grund zum Ausrasten zu haben) kreieren die Donots „den Youtube-Moment des Tages“: Inmitten der Menge bildet sich ein riesiger Moshpit – ausgelassen tobende Menschen, die einem als Einhorn verkleideten Anführer folgen, irgendwo dazwischen Ingo, der „Alles muss kaputt sein!“ ins Mikro brüllt und schließlich auf den Händen jubelnder Fans zurück zur Bühne getragen wird.

Wesentlich ruhiger aber nicht minder bewegend geht es anschließend im Palastzelt bei Faber zu und später bei AnnenMayKantereit, die Massen zur Fire Stage locken. Unter allen größeren Bands auf den Central Stages stechen AMK besonders durch ihre Unaufgeregtheit hervor. Keine spektakuläre Bühnenshow, keine aufputschende Publikumsanimation, kein Getue, wenig Gerede. Stattdessen ein ehrlicher, authentischer Auftritt, der in seiner Einfachheit nichts vermissen lässt.
Jonas aus Hannover, der die Band heute zum ersten Mal gehört hat, sagt anschließend: „Ich dachte immer, mein Lebensziel wäre es, einen Baum zu pflanzen. Aber eigentlich will ich einfach nur mit Henning in einer 2-Zimmer-Altbauwohnung wohnen! Mit Balkon!“ Damit ist er an diesem Tag sicher nicht alleine.

Viel Zeit zum Träumen bleibt allerdings nicht, denn auf der Water Stage bricht kurze Zeit später mit Parov Stelar & Band ein musikalisches Feuerwerk aus, bei dem es schwerfallen würde, die Füße still und den Kopf weiter in die Wolken zu halten.
Nicht nur musikalisch, auch kulinarisch können die BesucherInnen auf Entdeckungsreise gehen. Neben obligatorischem Festivalfutter wie Pommes, Pizza, Burger locken diverse multikulturelle Köstlichkeiten. Mittags gehen wir asiatisch essen (Reis mit Gemüse), nachmittags brasilianisch (Tapioka Wraps), abends indisch (Gemüsedöner) und nachts lassen wir uns Falafel aus Jerusalem schmecken.

Nach dem Essen sollst du bekanntlich entweder hundert Schritte auf der Tanzfläche tun oder ruhen – letzteres lässt sich besonders gut auf den Sanddünen oder in den Strandkörben im Infield, am Tresen im trojanischen Platzhirsch von Jägermeister oder in einer Riesenrad-Gondel hoch über den Baumkronen in den Lüften schwebend, mit wunderbarer Aussicht auf das gesamte Festivalgelände und einen – Oh mein Gott, dieser Himmel! – malerischen Sonnenuntergang. Die beste Kulisse für romantische Küsse und spektakuläre Selfies.

Mit Einbruch der Dunkelheit stürmen Kraftklub die Bühne: „Moin moin Deichbrand! Schön, wieder hier zu sein!“ Begeistert werden sie vom Publikum empfangen. Moin moin Kraftklub! Schön, dass ihr wieder hier seid! Mit beiden Armen in der Luft springen alle zu Ich will nicht nach Berlin. Warum auch, wenn wir hier sein können? Damit auch alle auf dem gleichen Stand sind, erklärt Frontmann Felix zunächst einmal, was das eigentlich ist, so ein Festival, und was man da so macht:

„Das ist immer ein schönes Wochenende, da freut man sich das ganze Jahr drauf. Mit den Freunden schön auf dem Zeltplatz chillen, sich Bands anschauen, die Sonne genießen, einfach mal Fünfe gerade sein lassen, einfach mal nicht an Verpflichtungen denken, einfach mal Sorgen ausblenden, einfach leben, einfach im Moment leben, Yolo und so!“

Die Euphorie weicht Nostalgie, als die Band zurückblickt auf den ersten Auftritt vor 7 Jahren, damals noch als kleine Lichter im RedBull Tourbus. Und heute spielen sie auf der Central Stage, mit zahlreichen TänzerInnen auf drei Etagen hinter sich und tausenden Fans vor sich. „Seitdem wir hier sind, seid ihr da!“ Das verbindet, das bindet – auch ganz offiziell. Vor zwei Jahren gaben Kraftklub ihre Verlobung mit dem Deichbrand bekannt. Und gibt es einen besseren Zeitpunkt für eine spektakuläre Trauung als jetzt, wo wir uns endlich über die Ehe für alle freuen können? Eine Ehe zwischen Band und Festivalpublikum soll deshalb noch heute Abend besiegelt werden. Und wie es das Schicksal will, thront auf einem Schulterpaar im Publikum tatsächlich eine Braut. Diese wird für die feierliche Zeremonie auf die Bühne geholt und gefragt, ob sie „als Stellvertreterin für 50.000 Deichbrander und Deichbranderianerinnen“ die Ehe vollziehen will. „Sie hat Ja gesagt!“, jubelt Felix und drückt seiner frischen Gemahlin einen liebevollen Schmatzer auf den Mund, bevor er sie Bahnen ziehen lässt auf dem Meer von ZuschauerInnen-Händen. Flitterwochen auf Central Island.

Die Krone setzt dem Abend schließlich Marteria auf. Ab der ersten Sekunde strotzt seine Show nur so vor Energie, Effekten und Elan. Neben Tracks der neuen Platte performt er auch altbekannte Hits wie OMG, Kids, Lila Wolken und Endboss. Zwischenzeitlich verwandelt er sich in Marsimoto, Bühne und Publikum sind in grünes Licht getaucht. Zu Aliens tritt Arnim von den Beatsteaks als specialguest auf und auch die drei Sängerinnen hinter Marteria haben jeweils einen kurzen Solo-Auftritt und sind dadurch mehr als nur backstage vocals. Schließlich ruft Marteria zur einträchtigen Verbrüderung und Verschwesterung auf, denn „wir sind alle eine Familie!“ und beschert dem begeisterten Publikum abschließend eine Dauerschleife von „letzten 20 Sekunden“, und jedes Mal soll noch höher gehüpft und noch ausgelassener gefeiert werden, Hemden sollen vom Leib gerissen und in die Luft geworfen werden. Tatsächlich fliegen gleichzeitig zahlreiche T-Shirts quer über die Menge. Aber was soll’s – es bleibt ja in der Familie. „Ich bin für absolute Gleichberechtigung!“, verkündet Marten außerdem nach seiner Performance von Marteria Girl.

DEICHBRAND Festival // Foto: Tobias Kästner // BildabuchMit politischen Statements ist er an diesem Tag nicht allein. Kollektive „Vollidiot“– und „Fickfinger“-Rufe gegen einen rechten Politiker leiten bei Kraftklub das Lied Spring aus dem Fenster ein – den Rahmen bilden „Nazis raus“-Rufe nach Verklingen der letzten Töne. Auch bei den Donots gab es ein Meer von Mittelfingern gegen Intoleranz und Ausgrenzung. Zu Ohne mich tanzten Tausende gegen Rechts. Und Frontmann Ingo holte aus gegen jegliche Form von unterdrückenden Ideologien:

„Es ist saugut zu wissen, dass es Orte wie diesen hier gibt! Wo wirklich mal Gehirnzellen versammelt sind und nicht nur Idioten, die sich auf ein Jenseits verlassen und sich dafür in die Luft sprengen und andere mit in den Tod reißen. Oder die Idioten, die Waffendeals abschließen, um Leute wegzubomben und damit dem Terror noch mehr Feuer geben. Oder die Idioten, die den ganzen Scheiß instrumentalisieren, um damit braune Meinungen breitzutreten!“

DEICHBRAND Festival // Foto: Tobias Kästner // @[148215211934345:Bildabuch]Und wie viele wünscht er sich ein bisschen mehr Deichbrand im Alltag: „Können wir uns nicht einfach alle entspannen wie hier, wo man einfach so zusammensteht, eine gute Zeit hat und nicht immer schaut, wie man das Leben anderer Leute kürzer machen kann!“
Love and Peace. Das ist Festival. Amen.

Tatsächlich lassen sich Zusammenhalt, ein respektvoller Umgang und ein tolerantes Miteinander kaum besser beobachten als auf einem Festival wie hier, wo Menschen dicht an dicht nebeneinander schlafen, duschen, tanzen, schunkeln, feiern, springen, singen (oftmals sehr schief, doch selbst das wird akzeptiert). Bestimmt gab es auch hier Idioten, die Grenzen überschritten, ihre Mitmenschen beklaut, eingeschränkt oder im schlimmsten Fall sexuell belästigt haben. Dem gegenüber stand jedoch eine riesige Menge von Menschen, die hilfsbereit, offen und rücksichtsvoll miteinander umgegangen sind.

Ein Zusammenhalt, der auch zum Tragen kam, wenn die ZuschauerInnen mit geballter Stärke mal einen Donots-Ingo (der anschließend seine Entjungferung bekannt gab), mal einen (zu diesem Zeitpunkt noch vollständig angezogenen) Kraftklub-Felix, mal einen bereits halbnackten Marteria-Marten stemmten. Und mal einen unbekannten Mann auf einem riesigen weißen Aufblas-Einhorn.

Im Palastzelt lässt eine große Schar feierwütiger Brandstifter auch diese Nacht keine Ruhe aufkommen. Es wird gestampft und gehopst und getorkelt … bis die Wolken wieder lila sind. Und bis die frühen Vögel kurz darauf schon wieder einen neuen Festivaltag begrüßen, mit Sonnencreme auf der Nase und Gummistiefeln an den Füßen. Der Sonntag wird bunt:Deichbrand Abschluß mit Bass in den Ohren, Beats in den Beinen und Burgern im Bauch„.

Hier gibts mehr Bilder vom Deichbrand 2017.

Ein Kommentar zu “DEICHBRAND 2017 – von Regenbögen und Einhörnern”

  1. Nummer 1: Deichbrand Abschluß mit Bass in den Ohren, Beats in den Beinen und Burgern im Bauch sagt:

    […] geht es zum ersten Teil unserer Deichbrand Berichterstattung: “DEICHBRAND 2017 – von Regenbögen und Einhörnern” – über BRKN, Bieryoga, Patrice, Donots, Parov Stelar, AnnenMayKantereit, Kraftklub, […]

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