Bochum Total 2013: Seifenblasen statt Gießkanne

News am 17. Juli 2013 von Konzertheld

Bochum Total 18 Monsters of LiedermachingBochum Total zählt zu den größten Open Air-Festivals Europas – und ist dabei völlig kostenlos. Mit über 200.000 Besuchern, die im Sommer für vier Tage das Bermuda3Eck in Bochums Innenstadt stürmen, hat sich das Ruhrgebiet hier eine echte Größe erarbeitet.

Musikalisch ist man dabei dieses Jahr eine eher ruhige Schiene gefahren. Zwar waren mit Eskimo Callboy, Van Canto und Mega! Mega! auch einzelne Vertreter aus Hardcore, Metal und Punk dabei, den Löwenanteil machten jedoch aktuell bekannte Singer-Songwriter und Indie-Bands aus. Auch bei Ausflügen Richtung Elektro und Hip-Hop ging es eher gemäßigt zu, es gab aber auch immer wieder bemerkenswerte Ausreißer.

Bochum Total 50 Guaia GuaiaBesonders in Erinnerung geblieben sind mir zum Beispiel Guaia Guaia. Das Duo kommt aus der Straßenmusikszene und wird von bösen Zungen manchmal „Penner mit Plattenvertrag“ genannt. Das Album „Eine Revolution ist viel zu wenig“ ist allerdings schon ihr viertes. Bei ihrem Auftritt nimmt man ihnen diese Aussage auch ab. Ihr Auftreten ist so wütend, so emotional, dass einige Zuschauer erschreckt zurückweichen, als einer der beiden von der Bühne springt und ganz nah an das Publikum herantritt. Das könnte allerdings auch daran liegen, dass die ganzen Maskenträger auf MC Fitti warten, der sich zwar musikalisch in einer ähnlichen Schiene bewegt, aber textlich eine ganz andere Richtung geht: YOLO, feier dein Leben. Nach Guaia Guaia möchte man losziehen und etwas anzünden. Dass die Band ihre Musik selbst nicht als politisch bezeichnet, kann man da kaum ernst nehmen.

Bochum Total 58 Van CantoEbenfalls einen großen Fanclub dabei hatten Van Canto. Die hatten mittags mit etwa 200 Leuten einige Chorgesänge für ihr nächstes Album eingesungen. Beim Auftritt lieferten sie ein würdiges Finale für das Festival – die Sänger flogen nur so über die Bühne, der bis auf das Schlagzeug a-capella erzeugte Sound war so fett, dass andere Bands davon nur träumen können.

Neben vielen eigenen Stücken gab es auch ein Cover von „Wishmaster“ von Nightwish und von einem Blind Guardian-Song. Das Publikum ging entsprechend mit – Aufforderungen wie „Wir würden gerne noch kurz was trinken, könnt ihr bitte entsprechend länger Lärm machen?“ wurde prompt Folge geleistet. Und gegen Ende amüsierte sich Inga über die Seifenblasen aus der hinteren Publikumsecke: „Ist ja süüüß!“

Überhaupt, die Seifenblasen. Passend zum heißen Wetter und der besonders an den ersten Tagen eher ruhigen Musik ist die Pogo-Gießkanne aus den letzten Jahren nicht mehr dabei, dafür sieht man an jeder Ecke Seifenblasen aufsteigen. Zum Bewegen ist aber ohnehin nicht viel Platz, besonders bei den Bands, die durch massives Auftreten in Radio und Fernsehen riesige Menschenmengen angezogen haben. Bei Thomas Godoj gibt es schwere technische Probleme, als zum wiederholten Mal ein Mikrofon nicht funktioniert, fliegen sogar Gegenstände auf die Bühne (und zwar keine sexy Unterwäsche). Maxim hingegen wird gefeiert, obwohl er bisher kaum Bekanntheit erlangt hat: „Die meisten von euch kennen wahrscheinlich nur ein Lied von mir, daher freut es mich dass trotzdem so viele gekommen sind“.

Bochum Total 27 Monsters of Liedermaching

Bochum Total 37 Abby

Pogo und Crowdsurfing kommen dann erstmals Freitagabend bei den Monsters of Liedermaching richtig zur Geltung. Mit einer bunten Mischung aus altbekannten Liedern („Tod in der Nordsee“) und Songs vom aktuellen Album „Schnaps und Kekse“ gibt es wie gewohnt einiges zu Lachen. Weniger friedlich geht es hingegen bei Mega! Mega! zu, die dauerhaft von Moshpits begleitet werden und sogar eine Wall of Death bauen. Dazu den „Circle of John Travolta“ – ein Circlepit nur mit Männern, während die Frauen in der Mitte tanzen. Funktionierte allerdings mäßig, weil auch den Frauen eher nach wilderem Feiern zumute war! Noch nach dem viel zu kurzen Konzert hört man immer wieder Leute „Einsatz! Einsatz!“ brüllen (sogar von kleinen Kindern!), auch „Bist du pro bin ich anti, bist du anti bin ich pro“ bleibt länger im Kopf hängen.

Dass es bei alledem das ganze Festival über nichtmal zu kleinen Ausschreitungen kam, dürfte nicht zuletzt auch an den freundlichen Securitys und dem guten Wetter gelegen haben. Auch das Konzept, keinerlei Kontrollen durchzuführen, sondern nur an den Eingängen darum zu bitten, Glasflaschen abzugeben, ging wieder auf. Gefühlt gab es auch weniger Notarzteinsätze als im letzten Jahr.

19 Bochum Total 2013 HerrenmagazinDas Publikum ist bei Bochum Total typischerweise sehr jung, was auch den für Schüler geeigneten Zeiten geschuldet ist. An den beiden Werktagen beginnen die ersten Acts erst um 17 Uhr. Gegen Abend, wenn die Besuchermenge generell stark ansteigt, finden sich dann auch mehr Erwachsene ein. Die vier Hauptacts des Tages sind dann um 22 Uhr schon wieder zu Ende, so dass man direkt zum Bahnhof laufen und wieder abreisen kann – oder in einem der zahlreichen Clubs weiterfeiern.

Wer früher kommt oder sich von den beiden Hauptbühnen wegtraut, wird mit edlen Perlen belohnt. Herrenmagazin zum Beispiel haben bei Bochum Total sicher einige neue Fans gewonnen. Von der Zuschauermenge schien die Band selbst überrascht bis amüsiert zu sein – selbst vom Dach des Gebäudes gegenüber schauten noch einige Leute zu. Viel Selbstironie und lässige Texte verpackt in eigentlich ziemlich rockige Musik – wer keine Angst vor deutschen Texten hat, dafür aber mal wieder weg will von der gerade so angesagten Singer-Songwriter-Szene, sollte sich die vier Hamburger mal anhören.

Auf dem Weg zur Sparkassenbühne, mitten auf der größten Kneipenstraße, gibt es dann auch noch die Trailer-Wortschatz-Bühne, die immer während der Umbaupausen genutzt wird. Dort fand am Samstag der Science Slam statt – eins meiner persönlichen Highlights. Absolventen der Ruhrgebiets-Universitäten konnten sich hier jeweils zehn Minuten darin messen, wer am besten das Thema seiner wissenschaftlichen Arbeit für ein Laienpublikum unterhaltsam darstellen kann. Der Gewinner hat das Maschinenbaustudium nicht gepackt und deshalb Physik studiert („Das macht Sinn, denn: Physik ist logisch, Maschinenbau ist DIN-Norm!“). Mit Bier in der Hand versteht er es ausgezeichnet, komplexe Theorien wie Schrödingers Katze („findet man heute oft im Internet“) in wenigen Sätzen einleuchtend zu erklären. Definitiv sehenswert.

Bochum Total 10 Youth KillsWer in den Pausen keine Lust auf Wortschätze hat, kann sich alternativ auch den Flunkyball-Spielern in den gesperrten Seitenstraßen anschließen oder Ausschau nach Prominenz halten – nicht wenige Künstler genießen das Innenstadt-Festival auch vor und nach ihrem Auftritt als Zuschauer. Der Sänger von Susanne Blech, die im letzten Jahr dabei waren, ist diesmal bei Mega! Mega! mit einem kurzen Gastauftritt dabei. Auch Radio Havanna, die als eine der ersten Bands Stimmung gegen rechts machten, treiben sich hier rum. „Wer von euch war heute Morgen beim Arzt, nur um heute Abend hier zu sein?“

Nur Simon Beeck von 1LIVE hat es hier schwer gehabt. Die Anwohner tolerieren die vier Tage Lärm mitten auf Bochums Innenstadt-Hauptstraße zwar Jahr für Jahr friedlich, das Publikum ist dann aber doch bunt gemischt aus vielen anderen Städten. So war die Aufgabe aus der „10 Festivals, 100 Aufgaben“-Aktion, den Hit „Bochum“ mit dem Publikum an der 1LIVE-Bühne zu singen, mäßig erfolgreich. Alle musikalische Vielfalt in Ehren – Herbert Grönemeyer würde bei Bochum Total nicht auf einer Bühne landen.

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